Guo Bingsen, Mein Weg in den Westen

Eine Überraschung

Seit 1960 übe ich Taiji Quan, zuerst die alte Langform des Yangstils mit 108 Bildern, danach dessen 88-er Form. Ich übte es in China jeden Tag zusammen mit meinen Freunden im Park in der Nähe meiner Wohnung. Damals hatte mir einer meiner Kollegen auch einige Qigongübungen gezeigt. Eines Tages praktizierte ich diese nach der gemeinsamen Taijirunde, die Augen hatte ich dabei geschlossen. Als ich sie wieder öffnete, stand jemand vor mir und fragte mich, was ich da geübt hätte. Ich gab ihm zur Antwort: „Das waren einfache Qigongübungen.“ Außerdem fragte er mich, wo ich wohne und was mein Beruf sei. Ich antwortete ihm: „Ich bin Lehrer und wohne ganz in der Nähe des Parks.“ Solche Unterhaltungen zwischen Unbekannten waren üblich in chinesischen Parks. Aber plötzlich fragte er mich, ob ich mich für Qigong interessiere. Meine Antwort: „Ja, sehr.“ Er schlug mir vor, mir einen Qigonglehrer vorzustellen und ich nahm dieses Angebot mit großer Freude an.
Er nannte mir ein Datum, eine Adresse und eine Uhrzeit. Als der Tag gekommen war, begab ich mich zu der betreffenden Adresse und klopfte an die Tür. Als sie geöffnet wurde – war er es selber.
„Wenn Du Qigong üben willst, so merke Dir gut, dass Du niemals anderen Schaden zufügst, immer anderen Gutes tust.“ Dies war das Erste, was mein Meister mir sagte, bevor er begann, mich im Qigong zu unterweisen. Diese Worte werden immer tief in mein Herz eingeschrieben bleiben. Bei meinem Meister habe ich Nei Jing Gong 1, Nei Jing Gong 2 und Nei Jing Gong 3 erlernt.

Das Nei Jing Gong beinhaltet verschiedene Positionen des Zhan Zhuang (Übungen im Stehen); z.B.:
1) Die Beine sind in paralleler Position 30 bis 60 Grad in den Knien gebeugt, die Fußspitzen zeigen dabei leicht nach innen, die Knie zeigen nicht über die Fußspitzen hinaus.
2) Die Fersen berühren sich, die Fußspitzen weisen nach außen; die Knie sind gebeugt und zeigen über die Zehen hinaus.
3) Die Fersen berühren sich, aber die rechte Ferse befindet sich vor der linken Ferse oder umgekehrt.
4) Ein Bein ist vor dem anderen, die Ferse des rückwärtigen Fußes berührt nicht den Boden usw.
Die Handformen sind auch unterschiedlich. Vor allem die Reihenfolge, in denen die Finger gebeugt werden, ist wichtig.
Die jeweilige Position des Zhan Zhuang und die der Hände sind beide von großer Bedeutung. Zum Beispiel gibt es eine Übung, die das Qi in spiralförmige Bewegung bringen soll. Wenn man diese Übung praktiziert, könne man das Qi über weite Entfernungen aussenden. Eine andere Übung ermögliche es, warmes Qi in kaltes Qi umzuwandeln. Nach der Theorie des klassischen Qigong kann ausgesendetes Qi organische und anorganische Materie verändern.
All diese Übungen riefen bei mir ein sehr großes Interesse hervor.

Erster eigener Unterricht

China

Ich übte das Nei Jing Gong täglich im Park. Das blieb meinen Kollegen nicht verborgen und sie baten mich, ihnen zu zeigen, was ich da mache. Ich antwortete ihnen, dass ich diese Übungen nicht ohne die Erlaubnis meines Meisters an andere weitergeben dürfe.
Eines Sonntags war ich bei meinem Meister, um ihn um Erklärungen zu einem alten Text zum Qigong zu bitten, in dem ich einige Sätze nicht verstanden hatte. Nachdem er mir den Text erklärt hatte, erzählte ich ihm vom Ansinnen meiner Kollegen, die mich immer wieder bedrängten, ihnen die Übungen zu vermitteln. Mein Meister sagte ganz ruhig: „Du kannst ihnen die Übungen beibringen.“ – Das war unerwartet! Ich hatte eine Unterrichtserlaubnis erhalten.
Also begann ich, meine Kolllegen in den Übungen zu unterweisen. Aber es kamen auch andere und folgten meinem Unterricht. Es waren viele, die sich um mich herum versammelten.

Frankreich

Im Rahmen eines akademischen Austauschs kam ich nach Frankreich.
Ein Kollege machte mich mit französischen Freunden bekannt, die Akupunktur erlernten und auch Taiji Quan praktizierten. Im Gespräch kam ich zufällig auch auf meine Qigong Praxis zu sprechen, von dem sie schon in ihren Akupunkturkursen gehört hatten. Aber sie kannten es nicht und baten mich, es ihnen beizubringen.
So habe ich begonnen, in Frankreich Qigong zu unterrichten.

Deutschland und Gründung einer Schule

1996 war ich in Deutschland. In einem Qigongkurs lernte ich Edith Guba kennen und wir begannen unsere Zusammenarbeit. Während meiner Aufenthalte in Europa war mir aufgefallen, dass Tai Ji Quan, Yoga und andere Gesundheitsübungen hier sehr verbreitet sind. Qigong war immer geheim weiter gegeben worden. Qigong ist gut für die Gesundheit. Warum wird es immer geheim gehalten? Selbst wenn einige Übungen öffentlich unterrichtet wurden, so handelte es sich hier doch nur um einen Teil der Anfängerübungen. Der tiefere Teil wird nicht gezeigt. Das ist auch ein Grund dafür, warum das Qigong sich nicht verbreiten konnte.
Zurück in China, berichtete ich meinem Meister von der Situation in Europa.
Ich erzählte ihm auch von meiner Idee, eine Schule zu gründen, um das Qigong zu verbreiten und um Kursteilnehmer bis zu einem höheren Niveau im Qigong auszubilden, damit sie ihre Fähigkeiten zur Selbstheilung und zur Unterstützung von Heilungsprozessen bei anderen entwickeln könnten. Diese Schule würde Unterrichtsberechtigungen für Qigong erteilen. Die Antwort meines Meisters war: „Du kannst es versuchen.“
Als ich wieder nach Bremen kam, erzählte ich Edith von meiner Idee der Gründung einer Schule und auch, dass mein Meister damit einverstanden war. Sie war gerne bereit, sich zu beteiligen und wir begannen mit den Vorbereitungsarbeiten. Die Schule heißt „Dao Yuan-Schule für Qigong“.

Die Seite der Dao Yuan Schule finden Sie hier: http://www.qigong-daoyuan.net

Ein Gedanke zu „Guo Bingsen, Mein Weg in den Westen

  1. Seit 2015 kommt Meister Guo nicht mehr in den Westen. Mit nunmehr 86 Jahren ist es für ihn an der Zeit, sich ganz auf sein eigenes Üben zu konzentrieren.
    Er hat Edith Guba, seine langjährige Meisterschülerin, zu seiner Nachfolgerin ausgebildet; diese führt die Schule weiter; nach wie vor stehen beide zu schulischen Belangen in regelmäßigem Austausch.

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