Fan Teng Gong und die Sondermeridiane

Vor Kurzem tauchte in einer Besprechung während eines Fan Teng Gong – Kurses die Frage auf, inwieweit denn die Sondermeridiane im Qigong der Dao Yuan Schule eine Rolle spielten.

Nun, den Sondermeridianen kommt im Verlauf der embryonalen Entwicklung eine große Bedeutung zu. Es wird gesagt, der Embryo atme nicht nur mit der embryonalen Atmung (einer Art Porenatmung), sondern auch Renmai und Dumai (die beiden mittigen, nach der Geburt von unten nach oben verlaufenden, zentralen Leitbahnen für Yin- und für Yang-Qi) zirkulierten bei ihm kreisförmig, in der Form des kleinen himmlischen Kreislaufs.

Renmai und Dumai zählen beide zu den acht Sondermeridianen. Die Umkehrung der nachgeburtlichen Fließrichtung des Qi im Renmai im Zusammenhang mit einer spontan eintretenden verstärkten Zirkulation des Qi in der Wirbelsäule (Dumai) – welche die präsumierte vorgeburtliche kreisförmige Zirkulation von Renmai und Dumai wieder herstellt – ist in manchen daoistischen Übungszusammenhängen eines der ersten, grundlegenden Ziele der Qigongpraxis.

Andere daoistische Richtungen arbeiten in ihren Sitzmeditationen stattdessen mit dem Zhongmai, dem mittigen Zentralmeridian. Der Zhongmai zählt nicht zu den acht Sondermeridianen.

Die Dao Yuan Schule kennt zwar den kleinen himmlischen Kreislauf, fokussiert sich jedoch nicht speziell auf dessen Entwicklung, da in ihrem Unterrichtssystem es zunächst das Nei Jing Gong ist, welches die Zirkulation des Qi in allen Meridianen öffnen kann – also den großen himmlischen Kreislauf.

Dennoch kommt es vor allem in den Shui Gong Kursen der Dao Yuan Schule nicht selten vor, dass sich bei manchem Schülern der kleine himmlische Kreislauf spontan öffnet. (Manchmal hatte sogar etwa die Hälfte der Kursteilnehmer dieser Übungen im Liegen ein derartiges Ergebnis.) Die zweite oben erwähnte besondere Fähigkeit des Ungeborenen, nämlich die embryonale oder Poren-Atmung, kann im Lehrsystem der Dao Yuan Schule mit dem Qigong im Gehen¹ vorbereitet werden.

Im zweiten Teil des Nei Jing Gong gibt es außerdem z.B. Übungen zur Öffnung des im Inneren hinter dem Renmai verlaufenden Chongmai. Dies dient im Zusammenhang des Nei Jing Gong der Entwicklung bestimmter latenter Fähigkeiten.

Die acht Sondermeridiane haben nach der Geburt vorrangig die Funktion, überschüssiges Qi aufzunehmen. Dies kann in der Kindheit reines kosmisches Qi sein, später sind es oft eher Ladungen von verbrauchtem Qi, die wir hier und da abbekommen, teilweise auch Restbestände von nicht völlig ausgeheilten. „weggedrückten“ Erkrankungen. Auch dieses verbrauchte, kranke Qi wird in den Sondermeridianen zwischengespeichert, in der Hoffnung des Körpers, bei Gelegenheit Möglichkeiten zu finden, sich des Abfalls wieder zu entledigen.

Unsere kindliche Fähigkeit zur automatischen Aufnahme von reinem kosmischen Qi verliert sich in der Pubertät.

Mit geeigneten Qigong-Übungen, zum Beispiel mit Fan Teng Gong, kann man verbrauchtes Qi aus dem Körper entsorgen und auch die Fähigkeit zur Aufnahme von kosmischem Qi nach und nach wieder herstellen und verbessern.

Das reine, frische Qi, welches wir im Fan Teng Gong aufnehmen, baut Blockaden nach seiner eigenen biologischen Logik ab, zirkuliert – nicht weiter spezifiziert – in allen Meridianen und reguliert diese, reguliert und befüllt auch die Organe. Überschüssiges aufgenommenes Qi wird im Dantian gespeichert.

Das Dantian ist ein Bereich im Unterbauch, der gut zur Speicherung von zusätzlichem Qi geeignet ist, da aus diesem Bereich Qi auch wieder gezielt und nach seiner eigenen Logik an von diesem erkannte Schwachstellen im Körper geliefert werden kann.

Alle diese Prozesse verlaufen individuell, auch die in diesem Zusammenhang auftretenden Reaktionen sind individuell unterschiedlich. Da diese Reaktionen im Zusammenhang der Auflösung von Blockaden manchmal recht heftig erscheinen können, sollte ein guter Fan Teng Gong Lehrer nach klassischer Auffassung hier aufgrund eines höheren Qi-Niveaus imstande sein, seine Schüler mit Qi zu unterstützen. Dadurch kann er die Fortschritte seiner Schüler beschleunigen.

Doch nicht nur das: ein höheres Qi-Niveau als das seiner Schüler bedeutet für den Lehrer auch, dass er kein verbrauchtes Qi von seinen Schülern aufnimmt. Dadurch kann er außerdem die Fortschritte in seiner eigenen, fortgeschritteneren Praxis beschleunigen.

Insbesondere, wenn bei einem Schüler eine starke Blockade aufgelöst oder aber auch seit langem „zwischengelagertes“ krankes Qi aktiviert und ausgeleitet wird, ist es für den Lehrer ein Segen, dass er hiervon selbst eher nicht angegriffen wird, wenn sein Körper – wie z.B. an der Dao Yuan Schule unumgänglich erfordert – durch ein dem Nei Jing Gong 2 vergleichbares Übungssystem imstande ist, ausreichend Abwehr-Qi zu mobilisieren.

Zurück zu den acht Sondermeridianen: diese werden möglicherweise bereits im Verlauf der ersten Teilungen der befruchteten Eizelle angelegt. Sie entsprechen weniger den Organen, da diese sich in der Entwicklung des Embryos erst herausbilden müssen, sondern beschränken sich sozusagen auf das Wesentliche: die Entwicklung von Yin und Yang in dessen Körper. Yin- und Yang-Qi sind jedoch auch nach der Entbindung für den Menschen dauerhaft von großer Bedeutung. Entsprechend der Theorie der chinesischen Philosophie und Medizin sind es gerade die Interaktionen je zusammengehörender Yin-Yang-Paare, die Entwicklung ermöglichen: Ohne Yin kein Yang und umgekehrt.

Die Gesetzmäßigkeiten von Yin und Yang in der Natur und im Menschen wurden zuerst im Yi Jing, dem Buch der Wandlungen, kohärent beschrieben. Auf den Theorien dieses klassischen chinesischen Werkes basiert JEDES klassische chinesische Qigong. Übungen, in denen es nicht um die Harmonisierung und Entwicklung von Yin-Qi und von Yang-Qi geht, sind kein Qigong.

Die Regulierung von Yin und Yang beginnt z.B. bereits in der Basis des Fan Teng Gong: Die Position der beiden Handflächen zueinander ermöglicht den Austausch von Yin-Qi und Yang-Qi im eigenen Körper. Bei Männern ist die linke Hand yang, bei Frauen ist es die rechte. Dies hat seinen Ursprung in der Entwicklung des männlichen und des weiblichen Embryos. Zeigen nun die beiden Handflächen in der Basisübung des Fan Teng Gong zueinander, so wird geschwächtes Yin-Qi von Yang-Qi gestärkt, geschwächtes Yang-Qi wird von Yin-Qi gestärkt. Dieses Yin-Qi und dieses Yang-Qi gehört im entwickelten menschlichen Körper zu bestimmten Organen, deren relative Schwäche oder Überfülle Zeichen von energetischen Ungleichgewichten sind, die im Qigong ausgeglichen werden sollen. Bestimmte Krankheitsreaktionen verweisen auf die energetische Regulation in korrespondierenden Körperbereichen. (Zum Beispiel: Die Ohren sind die Öffnung der Nieren. Unerwartet beim Üben auftretende Ohrgeräusche verweisen auf Störungen im Nierensystem – bzw. auf deren gerade stattfindende Regulierung. Von derartigen Störungen hat man vorher oft überhaupt nichts gewusst. Fan Teng Gong kann Ungleichgewichte regulieren, die sich noch weit unter der Schwelle westlicher Krankheitsbilder befinden.)

Jedes klassische chinesische Qigong reguliert durch die das eigene Qi ergänzende Aufnahme von reinem Qi aus dem Kosmos zunächst – in von Übungssystem zu Übungssystem variierender Form – die Zirkulation von Yin-Qi und Yang-Qi im menschlichen Körper, in dessen Organen und Meridianen. Darum hat man bei jedem klassischen Qigong von Anfang an immer starke Qi-Wahrnehmungen, insbesondere bei Übungen im Stehen.

¹ Qigong im Gehen kann den menschlichen Mikrokosmos mit dem großen Makrokosmos der Natur in Verbindung bringen. Ein Zwischenergebnis hierbei ist die Fähigkeit zu realen (nicht nur vorgestellten) sehr langen Phasen des Ein- und des Ausatmens, welche alleine mit der Lungenatmung nicht realisiert werden können. So kann es die üblicherweise sich in Sitzmeditationen einstellende embryonale Atmung vorbereiten.