Moral

Das Erste, was Meister Guos Meister zu diesem als seinem neuen Schüler sagte, war:

„Willst Du Qigong erlernen, so vergiss nie, anderen immer nur Gutes zu tun, ihnen niemals zu schaden.“

Jahrzehnte später hat Meister Guo das Dao De Jing von Lao Zi neu übersetzt¹. Dessen zweiter Teil, das „De Jing“ – „Das Buch vom De“ („Das Buch vom Ausdruck des Dao in der Welt“¹) beginnt mit diesem Kapitel:

38. kapitel

hohes de weiß nicht vom de – darum hat es de.

niedriges de verliert nicht sein de – darum hat es kein de.

hohes de handelt nicht und kalkuliert nicht,

niedriges de handelt und kalkuliert.

hohes wohlwollen handelt und kalkuliert nicht.

hohe gerechtigkeit handelt und kalkuliert.

hohe riten handeln, doch ohne entsprechung.

in der folge krempelt man die ärmel hoch und drückt sie durch.

also: nach dem verlust des dao

gibt es noch de.

nach dem verlust des de

gibt es noch wohlwollen.

nach dem verlust des wohlwollens

kommt die gerechtigkeit.

nach dem verlust der gerechtigkeit

kommen die rituale.

rituale sind schwach in treue und glauben,

doch sind sie unruhestifter.

intelligente kalküle:

der falsche glanz am dao und beginn

der ignoranz.

einsichtige menschen stützen sich auf solides, nicht auf schwaches.

sie vertrauen dem realen, nicht dem falschen glanz.

sie verwerfen diesen, wählen jenes.

In der französischen Originalübersetzung von Guo Bingsen:

Chapitre 38

L’homme de vertu supérieure ne prétend pas

posséder la vertu, mais il la possède réellement.

L’homme de vertu inférieure déclare ne pas avoir

perdu la vertu, mais il ne la possède pas réellement.

La vertu supérieure n’agit ni ne calcule.

La vertu inférieure agit et calcule.

La bienveillance supérieure agit et ne calcule pas.

La justice supérieure agit et calcule.

Les rites supérieures agissent.

A défaut de réponse, on retrousse ses manches

et les impose.

Après la perte du Dao, vient la vertu.

Après la perte de la vertu, vient la bienveillance.

Après la perte de la bienveillance, vient la justice.

Après la perte de la justice viennent les rites.

Les rites sont l’affaiblissement

de la fidélité et de la confiance et

le commencement du trouble.

Les calculs de l’intelligence

sont la fausse splendeur du Dao et

le commencement de l’ignorance.

L’homme de cœur s’appuie sur le solide et non sur

ce qui est faible.

Il se fie à la réalité, non à la fausse splendeur.

Il rejette celle-ci et adopte celle-là.

Der Daoismus glaubt an das Gute im Menschen, in seinem Verständnis wird der Mensch gut geboren.

Der Daoismus kennt nicht die Kategorie der „Sünde“, er spricht von „Fehlern“. Der chinesische Begriff hierfür ist 病 „bing“ – Fehler, Defekt, Krankheit. Wenn wir Qigong üben, arbeiten wir daran, unsere Krankheiten zu erkennen und zu heilen – inklusive der Fehler in unserem Verhalten.

Warum hat Meister Guos Meister dann gesagt, was er gesagt hat?

Nun, auch das Qigong ist nicht per se gefeit gegen das Böse. Zum Beispiel gibt es im Kungfu Übungen, welche die Fähigkeit entwickeln, den Kampfgegner zu töten, ohne dass man äußerlich irgendeine Verletzung an dessen Körper erkennen könnte. Bei dieser Übung entwickelt man zuerst die Fähigkeit, das Qi im Zeigefinger zu konzentrieren; dann entwickelt man die Fähigkeit, mit ausgesendetem Qi eine Kerzenflamme auszulöschen. Wenn man die Fähigkeit erreicht hat, mit seinem ausgesendeten Qi eine hinter einer Glasscheibe stehende Kerzenflamme zu löschen, ohne dass die Glasscheibe zerbricht – dann hat man auch die oben genannte Fähigkeit erreicht.

Unter dem Oberbegriff „Qigong“ verstecken sich verschiedene, teils sehr perverse Ziele.

Die Dao Yuan Schule für Qigong hat solche Ziele nicht, noch unterrichtet sie Übungen, welche derartige Ziele erreichen können.

Meister Guos Meister war sich aber wohl darüber im Klaren, dass man auch im Bereich des Qigong auf Abwege geraten kann. Dann kann man dessen höchste Ziele, schlussendlich das Dao, schwerlich erreichen. Jeder Meister möchte gerne, dass seine Schüler gute Ergebnisse entwickeln. Gute Ergebnisse erfordern gutes Üben und gutes Handeln entsprechend dem Dao.

(‚Entsprechend dem Dao‘ bedeutet nicht, dass man dafür Daoist sein müsste.)


¹ Guo, Lao Zi Dao De Jing, daoyuan verlag Edith Guba, ISBN 978-3-9809511-1-1

² 德_“De“ wird begriffen als „Ausdruck des Dao in der Welt“. Im Alltagsgebrauch bedeutet es „Moral, Tugend“. Leider sind manche Begriffe im Westen durch verschiedenen historische Funktionalisierungen kaum mehr ohne verquere Konnotationen verwendbar. Moral und Tugend sind als Begriffe hier schon seit Längerem in den jeweils zweiten Rang abgerutscht, den der Abwesenheit von De: sie werden als Handlungsweise proklamiert („nicht verloren“) oder sie dienen der Intervention und dem Kalkül. Darum blieb der Begriff im Deutschen unübersetzt. Meister Guo verwendet im Französischen „vertu“ – es mag für ihn als Nicht-Muttersprachler einfacher sein, einen eventuell vorhandenen negativen Kontext zu überhören, vielleicht ist er im Französischen auch nicht so spürbar vorhanden wie im Deutschen.