Die drei Schätze des Qigong

Jing 精, Qi 氣 und Shen 神 : Essenz, Energie-Materie und Geist nennt man die ‚drei Schätze des Qigong‘. Mit ihnen arbeiten wir in den Übungen.

Manchmal herrscht Unklarheit darüber, was darunter denn nun genau zu verstehen sei.

Irgendwo habe ich gelesen, Jing sei die Materie, Qi die Energie und Shen der Geist. Diese Auffassung sei hier nicht weiter bewertet.

Andererseits finden (selten) einige unserer Kursteilnehmer, das Fan Teng Gong sei doch sehr körperorientiert, es fehle Ihnen die ‚Spiritualität‘. Sie empfinden wohl eher die materielle Komponente des Qi. Auch dies soll hier nicht weiter bewertet werden.

JING

Im Verständnis der chinesischen Philosophie sind Jing, Qi und Shen nicht voneinander zu trennen.

Jing ist die sehr feine Essenz aller Wesen und Dinge. Auch im Dao De Jing des Lao Zi ist an einigen Stellen davon die Rede, z.B. im Kapitel 21:

offenes de ein gesicht, das nur dem dao entspricht.
das dao wird zu den dingen: undeutlich unbestimmt
undeutlich unbestimmt – in der mitte sind bilder
undeutlich unbestimmt – in der mitte sind dinge
so tief, so dunkel – in der mitte ist jing
das jing ist real – in der mitte ist treue.
von heute bis in die vorzeit ist dieser name erhalten
demgemäß erkennt man den ursprung der wesen, der dinge
wie kann ich den zustand im ursprung der wesen und dinge denn wissen?
dadurch.

Es handelt von der Entstehung des Yuan Jing (Ursprungs-Jing) aus dem Dao, vermittels des De.

Yuan Qi (Ursprungs-Qi) entsteht aus Yuan Jing. Beide erben wir von unseren Eltern. Yuan Qi formt unseren Körper im Mutterleib, Yuan Jing wird in den Nieren gespeichert und bestimmt unsere Lebenserwartung.

Nach der Geburt nehmen Kinder bis zum Eintritt der Geschlechtsreife weiterhin Kraft der natürlichen Funktionen des Heranwachsens Yuan Qi aus dem Kosmos auf. Danach wird verbraucht, bis hin zum Tod.

Unser Körper ist fähig, Jing aus der Nahrung zu extrahieren. Dieses dient der Kräftigung der Organe, des gesamten Organismus. Es wird aus dem Magen zur Milz transportiert und von dort weiter zu den Lungen.

In Situationen, die viel Qi verlangen (Erkrankungen, Stress usw.) benötigt der Körper manchmal mehr, als in den Organen vorhanden ist. Dieser Mangel wird ausgeglichen, indem sich das in den Nieren gespeicherte Yuan Jing in Qi transformiert und die Organe stützt.

Auch beim Geschlechtsverkehr wird Jing verbraucht, im Qigong nennt man es ‚trübes Jing‘.

Während des Übens kann sich manchmal sehr viel Speichel im Mund bilden, im Qigong nennt man ihn ‚reines Jing‘. Man schluckt es hinunter zum Unterbauch, damit es sich in Qi transformiert.

Qi

Dieser Begriff bedeuted ‚Energie-Materie‘ (die häufig zu findende Übersetzung ‚Lebensenergie‘ greift zu kurz). Die chinesische Philosophie geht davon aus, dass alles Existierende aus verschiedenen Manifestationen des Qi zusammengesetzt ist: Energie kann sich nach dieser Auffassung in Materie verwandeln, Materie kann sich in Energie verwandeln. Die Einheit von Energie und Materie nennt die chinesische Philosophie ‚Qi‘.

‚Qigong‘ ist also ‚Arbeit mit Energie-Materie‘. Man könnte auch sagen: in den Übungen nehmen wir Qi in einer feinen Form aus der Natur und aus dem Kosmos in uns auf und transformieren damit die träge Form des Qi, welche unseren Körper bildet.

Shen

Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,
die eine will sich von der andern trennen:
Die eine hält in derber Liebeslust
sich an die Welt mit klammernden Organen;
die andre hebt gewaltsam sich vom Dust
zu den Gefilden hoher Ahnen.

(Goethe, Faust)

Shen wohnt im Herzen. Die beiden Shen-Arten, die uns mitgegeben sind: Shi Shen und Yuan Shen.

Shi Shen ist der Geist des Wissens, der Kenntnisse, der zielgerichteten Aktion; sein Charakter ist yang. Man kann mit seiner Hilfe die äußeren Aspekte der Welt und des Lebens erkennen.

Yuan Shen ist unser Ursprungsgeist, der vor allem in der Kindheit wirksam ist; sein Charakter ist yin.

Mit seiner Hilfe erkennt man das wunderbare Zusammenspiel aller Erscheinungen in Natur und Kosmos; deren Mysterien. Der Yuan Shen erkennt spontan und drückt sich aus in spontanen Handlungen.

Man sagt, man könne durch geeignete Übungen die Fähigkeit entwickeln, Qi auf andere auszusenden, um z.B. Krankheiten zu heilen.

Auch der Yuan Shen hat die Fähigkeit des Heilens: man sieht jemanden, der leidet und fühlt, dass man helfen will. Der Yuan Shen geht hin und tut es. Der Shi Shen erkennt, dass es gut war.

Die Aktionen des Shi Shen kann man steuern, die des Yuan Shen nicht.

Jeder von uns hat einen Yuan Shen. Normalerweise schlummert er bei Erwachsenen vor sich hin. Mit geeigneten Übungen im Sitzen kann man ihn stärken und entwickeln. Derartige Übungen sind für Fortgeschrittene im Qigong: die Qi-Basis muss gut entwickelt sein.

Zwischen Jing, Qi und Shen gibt es Wechselwirkungen in beide Richtungen:

Jing kann sich in Qi transformieren, Qi kann sich in Shen transformieren. Shen kann in die Leere (Xu) eintauchen. Aus der Leere erfährt der Shen seine Kräftigung, aus dem Shen wird das Qi gestärkt, aus dem Qi wird das Jing gestärkt.

Es gibt Übungen, die beim Jing ansetzen, um diese Prozesse einzuleiten und es gibt Übungen, die beim Qi ansetzen. Normalerweise setzt das Qigong bei der Entwicklung des Qi an: der Energie-Materie, die in verschiedenen sichtbaren und unsichtbaren Zusammensetzungen den gesamten Kosmos, Welt, Mensch und Natur konstituiert.

Diese Übungen können die sogenannten ‚Latenten Fähigkeiten‘ entwickeln. Es sind Fähigkeiten des Yuan Shen.

Will man das ‚goldene Dan‘ entwickeln, muss man Übungen praktizieren, die den Geist kultivieren. Dies geht weit über die üblichen ‚latenten Fähigkeiten‘ hinaus. Ohne ein starkes Qi kann man den Geist nicht kultivieren.

XIN 信 Vertrauen, Treue, Gewissheit

Im 21. Kapitel des Dao De Jing heißt es:

其 中 有 精, 其 精 甚 真, 其 中 有 信

(so tief, so dunkel) in der mitte ist jing. das jing ist real. in der mitte ist treue.

Guo Bingsen und Edith Guba haben ‚xin‘ hier mit ‚Treue‘ übersetzt: Treue zum Dao, zum De, zur Natur und dem Leben.

Eine andere Möglichkeit wäre, ‚xin‘ mit ‚Gewissheit‘ zu übersetzen: Gewissheit in der Erkenntnis von Dao und De, in der Erkenntnis der Entstehung des Lebens.

Diese Erkenntnis entsteht aus dem Undeutlichen, dem Unbestimmten des Xu (der Leere). Dem Shi Shen ist sie nicht nachvollziehbar, er empfindet sie als obskur.

Darum haben wir ‚Treue‘ als Übersetzung für ‚xin‘ gewählt.