Vorstellung2

Vorstellungen haben ihr Ziel nicht in sich selber, sondern in der Realität:

Kleiner himmlischer Kreislauf
Darstellung des kleinen himmlischen Kreislaufs

Als ich mit 19 Jahren das erste Mal Schlittschuh laufen wollte, stellte ich mir am Abend vorher vor, wie ich mich als Kind auf Rollschuhen fortbewegt hatte. Als ich die Schlittschuhe am nächsten Tag an den Füßen hatte, kam ich ganz passabel damit zurecht – ohne mir die Rollschuhe weiterhin vorstellen zu müssen: Die Vorstellung hatte den Weg gebahnt, möglicherweise alte Synapsen neu aktiviert – wie auch immer.

Auch im Qigong liegt das Ziel von Vorstellungsübungen nicht in diesen selber, sondern in der Realität. Der Unterschied zum Schlittschuh-Beispiel besteht darin, dass wir im Qigong kein Modell der zu erreichenden Realität haben. Wir müssen auf unsere Lehrer vertrauen.

Einer unserer Kursteilnehmer bekam – als er bereits ein etwas fortgeschrittenes Niveau in den Übungen unserer Schule erreicht hatte – auf einmal heftige Schüttelbewegungen während des Übens, als erhielte er Stöße von unten nach oben, im Bereich der Wirbelsäule, vom Steißbein bis etwa in Taillenhöhe. Eigenartig daran war, dass diese Bewegung nicht weiter die Wirbelsäule nach oben stieg:

Im Qigong gibt es eine spontan einsetzende Zirkulation, die Verbindung der beiden zentralen Meridiane Dumai und Renmai; man nennt sie den kleinen himmlischen Kreislauf.

Dieser wird zuerst im Bereich des Steißbeins wahrnehmbar, steigt dann in der Wirbelsäule nach oben, verläuft über den Kopf und verbindet sich vorne mit dem (normalerweise von unten nach oben zirkulierenden) Renmai zu einer gemeinsamen kreisförmigen Zirkulation. Wenn er das erste Mal einsetzt, ist es durchaus möglich, dass dieses Kreisen etwas heftiger verläuft: die Bahnen müssen sich erst öffnen. Besonders im Bereich des Hinterkopfes ist es manchmal etwas schwierig. Im Taillenbereich ist es normalerweise aber sehr einfach, dieser befindet sich innerhalb der ersten ‚Teilstrecke‘ zwischen Steißbein und der mittleren Brustwirbelsäule. – Warum nun hier diese Blockade?

Der Teilnehmer erinnerte sich an eine früher von ihm praktizierte Übung: irgendwo hatte er gelernt, sich eine kreisförmige Bewegung im Unterbauch vorzustellen: entlang der Wirbelsäule nach oben bis knapp unter die Taille, dann quer durch den Bauch und vorne wieder runter usw.

Das Qi folgt der Vorstellung und das Qi kann man zwar nicht sehen, jedoch kann man es spüren. Die hervorgerufene Wahrnehmung dieser vorgestellten Qizirkulation beschrieb der Teilnehmer als sehr angenehm.

Im Qigong geht es jedoch nicht um Vorstellungen, die angenehme Gefühle hervorrufen. Dies wäre sehr leicht zu erreichen. Stattdessen geht es darum, Vorstellungen einzusetzen, um bestimmte Ziele zu erreichen. Ziele, auf denen in weiteren Entwicklungsschritten wiederum aufgebaut werden kann, die also im energetischen Sinne physiologisch sind.

Die Zirkulation, die der Kursteilnehmer früher praktiziert hatte, wurde zwar als angenehm empfunden. Die spontane Entwicklung des kleinen himmlischen Kreislaufs wurde von ihr jedoch blockiert: das Qi war ‚daran gewöhnt‘, vom Taillenbereich nach innen und nach vorne weiter zu zirkulieren.

Schließlich gelang es Meister Guo, mit seinem Qi diese offensichtlich durch energetisch unphysiologische Vorstellungsübungen hervorgerufene Blockade zu lösen und der Teilnehmer war sehr erfreut, nun endlich den kleinen himmlischen Kreislauf zu kennen.

Kein traditionelles Qigong würde Übungen anwenden, welche den kleinen himmlischen Kreislauf unterdrücken. Dazu ist dieser zu wertvoll. In daoistischen Übungssystemen stellt er häufig den Ausgangspunkt weiterer, fortgeschrittener Entwicklungen im Qigong dar. Er ist eine Basis.


 

Das Fan Teng Gong arbeitet (mit einer einzigen Ausnahme) ohne Vorstellungslenkung. In diesem Qigong sind es die Standposition und die jeweilige Haltung der Hände, welche zu seinen Ergebnissen führen.

Bisher haben wir von keinem Schüler gehört, dass dessen Übungen den kleinen himmlischen Kreislauf ausgelöst hätten. Dieser kann sich leichter in Sitzmeditationen oder bei bestimmten Übungen im Liegen öffnen. Im Fan Teng Gong ist der kleine himmlische Kreislauf nicht erforderlich, um gute Ergebnisse zu erhalten: sie wirken an sich selber – ebenso wie der kleine himmlische Kreislauf – auf die innere Zirkulation des Qi im menschlichen Körper, harmonisierend auf das Wechselspiel von Yin-Qi und Yang-Qi.

Das Fan Teng Gong weist daoistische und buddhistische Einflüsse auf. Der kleine himmlische Kreislauf hat in daoistischen Übungssystemen eine große Bedeutung als erstes wesentliches Ergebnis des Übens, in traditionellen buddhistischen Übungssystemen wird hingegen kein Wert auf das Einsetzen dieser Zirkulation gelegt.

Dem kleinen himmlischen Kreislauf wird eine lebensverlängernde Wirkung nachgesagt, dem Fan Teng Gong ebenso. Eine Wirkung zur Unterstützung medizinischer Maßnahmen bei schwer behandelbaren Erkrankungen wird dem kleinen himmlischen Kreislauf jedoch nicht zugeschrieben.

Die erste Stufe des Fan Teng Gong mit ihren hier benannten Übungen ist die Anfängerstufe des Fan Teng Gong. Nur diese Stufe wurde in China öffentlich gelehrt. In der Übersetzung des Skripts zum Fan Teng Gong von Lu Xue Zhi durch Christel Proksch heißt es sinngemäß: ‚Einige Schüler werden mit diesen Übungen eine Anlage zu besonderen Fähigkeiten erkennen lassen. Für diese haben wir (also Lu Xuezhi und sein Meister) weitere Übungen.‘

In traditionellen Übungssystemen sind es durchgängig deren zweite und dritte Stufen, die ihre fortgeschrittenen Ergebnisse ermöglichen.