Wie Sand am Meer

Als wir unser Haus in St. Andreasberg etwas renoviert haben, gingen dort die Handwerker ein und aus. Manche interessierten sich auch dafür, was wir denn beruflich so machen. „Wir haben eine Qigongschule“ war dann regelmäßig unsere erste Antwort. Manchmal musste man noch erklären, was ‚Qigong‘ denn sei. Einer allerdings, Meister in seinem Fach, wusste schon etwas davon:

„Qigong? – Ist das nicht das, was gelangweilte Hausfrauen machen, wenn sie sonst schon alles ausprobiert haben?“

Handwerker sind ergebnisorientierte und pragmatische Menschen. Was dieser Meister bisher vom Qigong gehört hatte, schien seinem Verständnis von Realitätsnähe nicht zu entsprechen.


In den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war das Qigong in der chinesischen Öffentlichkeit sehr populär. Eine Gruppe von Experten machte sich die Mühe, die damals in der Öffentlichkeit gelehrten Formen zu zählen und zu beschreiben. Das Ergebnis wurde veröffentlicht unter dem Titel: „Zhong Hua Qigong Da Dian“ – Großes Kompendium des chinesischen Qigong, Jiang Chen Huan, Gu Ping Dan et al., ISBN7-80061-097-7/Z.8, 1995. Man konnte es eine kurze Zeit lang im Baiyun Guan (Tempel der weissen Wolke) in Peking käuflich erwerben.

Dieses umfangreiche Werk nennt ca. 400 in der chinesischen Öffentlichkeit bekannte Qigongformen. Es gäbe weitere Formen, die jedoch nicht öffentlich zugänglich seien.


Manchmal hört man im Westen, es gäbe so viele Qigongformen ‚wie Sand am Meer‘. Nun, mit 400 Sandkörnern kommt man selbst in der Sandkiste nicht weit.

Wie kann dieser Eindruck entstehen?

Das Qigong ist sehr alt. In der chinesischen Geschichte wurde es selten öffentlich unterrichtet, sondern in der Regel nur vom Meister zum Schüler unter vier Augen weiter gegeben. Diese Schüler waren handverlesen; man kam nur dann an diese Übungen, wenn man von einem Meister dazu eingeladen wurde. Sie wurden weiter gegeben unter dem Siegel der Verschwiegenheit.

Die Schüler merkten sehr schnell, wie stark diese Übungen waren und auch, dass man sie besser nicht verändern sollte: zu unbekannt ist Neulingen deren Funktionsweise. Sie wollten nicht das Risiko eingehen, durch Abänderungen an den Übungen deren Wirkung abzuschwächen oder Probleme damit zu bekommen. Sie achteten ihren Meister und hatten auch großen Respekt vor den Übungen selber.

Wenn sie selbst schon sehr fortgeschritten waren und ein hohes Niveau im Qigong erreicht hatten, erkannten sie vielleicht in einigen Fällen, wie diese Übungen verändert werden könnten, um ihr Ergebnis noch einfacher zu erreichen. Das geschah nicht sehr häufig. Darum waren in China in den 90-er Jahren des letzten Jahrhunderts nur ca. 400 Übungsformen in der Öffentlichkeit bekannt.


Im oben genannten Kompendium zum Qigong heißt es sinngemäß auch: „Heute werden sehr viele Übungen ‚Qigong‘ genannt, die man früher nicht so bezeichnet hätte. Es ist jetzt aber so gebräuchlich, darum verwenden wir diese Bezeichnung ebenfalls in diesem erweiterten, neuen Verständnis.“


Und was nennt man im Westen „Qigong“? – Es sind sehr viele Daoyin und Yangsheng Gong Übungen dabei. Diese gehören traditionell nicht zum Qigong. Heute nennt man sie auch so.

Daoyin und Yangsheng Gong Übungen kann man verändern, ohne dass die Übenden energetische Probleme bekommen. Und es wird auch viel und gerne verändert. Viele der westlichen Lehrer kennen neben diesen Übungen andere Methoden, die ebenfalls sehr gut sind. Im Unterricht kombinieren sie die verschiedenen Übungen: und schon ist wieder ein neues Sandkorn dabei – nach dem derzeitigen Sprachgebrauch eine ’neue Qigongform‘.

Traditionelle Qigongübungen sollte man nicht verändern, so lange man nicht ein sehr hohes Niveau im Qigong erreicht hat.

Der Azubi darf ja auch noch nicht die Vollholzmöbel für das Schlafzimmer bauen.

Allerdings nennen auch manche Qigongmeister ihr Qigong ‚Yangsheng Gong‘. Man sollte also besser etwas aufpassen. Nicht, dass man das wertvolle Holz unbrauchbar macht…

Die Dao Yuan Schule versucht, in ihrer Ausbildung zum Lehrer für Fan Teng Gong die traditionelle Qualität zu erhalten.